Das Jahr der Eroberungen
Alle drei Spiele, die 1999 für das Spiel des Jahres nominiert waren, hatten mit der gewinnbringenden Eroberung der scheinbaren Wildnis zu tun: Tikal, Giganten und Union Pacific.
Irgendwie kam die Spieleszene seit dem Riesenerfolg von Die Siedler von Catan mehrere Jahre nicht mehr vom Thema los: der Nutzbarmachung der Weite. Im Wettstreit um den höchsten Profit werden Händler, Seefahrer, Schatzsucher und allerlei Abenteurer losgeschickt.
Nicht dass das Thema neu wäre – doch 1999 trat das Phänomen massiert und in höchster spielerischer Qualität in Erscheinung. Das Thema war in der realen Geschichte des Menschen auch stets das mit der größten Spannung.
Den Beigeschmack der Plünderung besitzt das Spiel, das schlussendlich das Spiel des Jahres 1999 geworden ist: Tikal. Aber wollen wir nicht so streng sein und alle unmenschlichen Facetten der Eroberung Südamerikas in dieses Spiel hinein interpretieren. Schließlich ist Tikal keineswegs "mörderisch" in dem Sinne, dass die Gegner vom Spielbrett geschlagen werden oder gar arme Eingeborene dran glauben müssten. Und außerdem war Tikal von den drei Nominierten schlicht das stimmungsvollste und überzeugendste.
Stimmungsmacher
Dazu trug Franz Vohwinkel als Illustrator der Erstausgabe bei Ravensburger ganz wesentlich bei! Sobald die ersten sechseckigen Plättchen auf dem Spielbrett liegen, stellt sich das Urwald-Feeling ein. Die unbedachte Äußerung, es handle sich wegen der Sechsecke wohl um ein "Dschungel-Siedler", die da und dort gehört wurde, ist spätestens nach der dritten Runde zu revidieren. Tikal ist gänzlich anders!
Bleibt der Ausbau bei den Siedlern den Spielern einer Kombination aus Möglichkeit, Würfelglück und gegenwärtiger Position überlassen, ist bei Tikal die Eroberung des Urwalds quasi ritualisiert. Die Spieler dringen praktisch gemeinsam in die selbe Richtung vor und müssen aus den neuen Gegebenheiten das Beste machen. Die so genannten Geländetafeln sind entweder Urwald, zeigen einen Tempel, einen Schatz oder den Krater eines Vulkans. Vom verdeckten Stapel werden sie reihum gezogen und nach Gutdünken des jeweiligen Spielers ins Feld gesetzt. Die einzige Bedingung: die neue Geländetafel muss an mindestens eine schon liegende anschließen.
So verändert sich das Spielfeld von Zug zu Zug und bis zum Spielende bleibt offen, wer daraus das Optimum herausgeholt haben wird. Denn die Punkteabstände gegen Schluss sind meistens bemerkenswert knapp. Aber das ist von einem Autor wie Wolfgang Kramer (er hat Tikal gemeinsam mit Michael Kiesling entwickelt) nicht anders zu erwarten: Kramer, von Beruf Informatiker, ist einer der Großmeister mathematisch ausgeklügelter Spiele. Denken wir nur an Mitternachtsparty oder Heimlich & Co. Anders ausgedrückt: Bei Tikal sind die Chancen der einzelnen Spieler sehr gut ausgewogen.
Jähes Ende
Was ist das Spielziel? Jeder Spieler leitet eine Expedition zur Maya-Stätte, hebt im Laufe des Spiels Schätze und erobert Tempel. Wer dabei die meisten Punkte sammelt, hat am Ende gewonnen. Der "sudden death", also das "plötzliche Ende", spielt im Verlauf von Tikal eine große Rolle. Diese bei Familienspielen derzeit (1999) in Mode stehende Form der Schicksalsgebung finden wir übrigens auch bei Union Pacific. Doch bei Tikal ist der "sudden death" um Klassen besser in den Spielfortgang eingebunden und richtiggehend kultiviert. Dieses "plötzliche Ende" gereicht nämlich nur scheinbar demjenigen zum Vorteil, der es durch Umdrehen einer Vulkankarte heraufbeschworen hat. Es wird dann jedes Mal eine Wertung ausgelöst, aber eben diese Wertungen haben es spielmechanisch in sich.
Doch kehren wir zur Ausgangslage zurück. Im Basiscamp haben die Spieler 19 Expeditionsteilnehmer und zwei Zelte. Wer an der Reihe ist, führt zwei Handlungen aus: er deckt eine Geländekarte auf, fügt sie am Spielplan an und – ein gravierender Unterschied zu den Siedlern – hat zehn Aktionspunkte zur Verfügung. Also keine Karten, keine Würfel. Diese zehn Aktionspunkte verbraucht der Spieler, wie er will. Eine Figur (Expeditionsteilnehmer) einsetzen kostet einen Aktionspunkt, das Bewegen auf die nächste Geländetafel (oder noch weiter) hingegen kann ein teurer Spaß werden. Denn ein Feld kann nur über Steinplatten betreten werden, die sich in unterschiedlicher Anzahl an einigen Rändern der Sechsecke befinden. Jedes Betreten einer dieser Steinplatten kostet einen weiteren Aktionspunkt. Liegen beispielsweise zwei Seiten mit je zwei Steinplatten gegenüber, kostet das Überqueren bereits vier Aktionspunkte – für eine Figur!
Ausgangslage
Ein Schlüssel zum späteren Sieg ist für jeden Spieler deshalb, dass er sich sehr genau überlegt, wo und wie er eine neue Geländekarte anlegt. Er kann sich im Idealfall dadurch den eigenen Nachschub erleichtern und sich vor zu starken Gegnern schützen. Es wird allerdings oft beim Kompromiss bleiben müssen. Der Nachschub an eigenen Expeditionsteilnehmern ist von bedeutender Rolle. Auf den Tempelfeldern gibt es die meisten Wertungspunkte zu holen, die aber nur derjenige kassiert, der auf diesem Feld über die meisten Figuren verfügt.
Der schon angesprochene Clou im Zusammenhang mit dieser "Sudden death"-Mechanik; Wer eine Vulkankarte aufdeckt, führt seinen Zug zu Ende, verbraucht also seine zehn Aktionspunkte und zählt anschließend zusammen, was er mittlerweile an Schätzen gehoben und wo er die Mehrheit auf Tempelfeldern hat. Das sind seine Wertungspunkte. Danach kommen reihum alle anderen Spieler an die Reihe, verbrauchen zuerst ihre zehn Aktionspunkte und zählen wiederum zusammen. So kann ein Tempelfeld innerhalb einer einzigen Wertung auch verschiedene "Mehrheitseigentümer" sehen, denn den nachfolgenden Spielern bleibt es ja überlassen, ob und wohin sie neue Figuren ein- oder versetzen. So kann man durchaus günstig zu Wertungspunkten kommen, wenn die Unterschiede der jeweiligen Mannstärke auf einem Tempelfeld gering und Nachschub in greifbarer Nähe ist.
Wie die Spieler nach und nach entdecken, macht es durchaus Sinn, sich bei insgesamt 15 Tempeltafeln nicht zu verzetteln. Zumal die Tempel unterschiedlich viele Punkte einbringen: einmal zufällig, weil es verschiedene Ausgangswertigkeiten auf den Tempelkarten gibt, dann aber auch bewusst gesteuert. Denn mit zwei Aktionspunkten kann man im Tempel "graben" und aus einem 3er-Tempel einen 4er-Tempel usw. machen. Der Wert eines Tempels kann so bis zu zehn steigen. Zu beachten ist, daß in dieser Wertungsphase kein Spieler eine zusätzliche Geländekarte legt. Erst wenn alle Spieler gewertet haben, bringt der Wertungsauslöser die vorher aufgedeckte Vulkankarte ins Spiel, danach geht es normal weiter.
Ist die letzte, 36-ste Geländekarte gelegt, setzt jeder noch einmal seine zehn Aktionspunkte und wertet unmittelbar danach für sich allein. Das Spiel ist zu Ende.
Feinheiten von Tikal sind unter anderem die Schätze, die verdeckt auf Schatzfeldern liegen, wobei Paare und Drillinge zusätzliche Wertungspunkte bringen. Aber auch die beiden Zelte, die die Spieler mitten im Urwald als Camps einsetzen können, um von dort ihre Figuren an Stelle des Basiscamps loszuschicken. Oder, dass Tempel gegen neue Mehrheiten geschützt werden können; allerdings schlägt sich dann ein notwendiger Wächter mit fünf Aktionspunkten zu Buche.
Rundum ist Tikal als absolut gelungen zu bezeichnen. Die Spieldauer ist zwar relativ lang, doch es wird keine Minute langweilig. Den Titel Spiel des Jahres 1999 haben die Autoren und Ravensburger auf jeden Fall verdient.
Nr. 514: Tikal |
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Spielwiese-Code | | G | 10 | | |
2005: Rio Grande Games/Abacus 1999: Ravensburger
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Themen: Forscher, Urwald, Tempel Preis-Leistungsverhältnis |
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-Service:Spielanleitung zum Herunterladen |
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Auszeichnungen
Rund ums Spiel
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