In diesen Wochen jähren sich die ersten Einschläge und unsere ersten Erfahrungen mit der Virussituation. Was sich für uns Spielbegeisterte von einem Jahr Pandemie-Experimentierphase ableiten lässt und wie die nahe Zukunft aussehen wird.
8. MÄRZ 2021
Brett- und Kartenspiele haben in der Pandemie ungeheuren Zuspruch erfahren. Der hochgeschnellte Umsatz ist allerdings ungleich, um nicht zu sagen ungerecht, verteilt. Die stationären Fachhändler sind weiter ins Hintertreffen geraten, nicht nur gegenüber Amazon und anderen Internet-Riesen, sondern auch gegenüber Supermärkten und anderen, die auch in der Pandemie durchgehend offen halten und Spielwaren verkaufen durften. Auch Kleinverlage gehören nicht zu den Profiteuren.
Man muss es sagen, wie es ist: Nach nunmehr einem Jahr Pandemie befinden wir uns noch immer mitten in der Experimentierphase. Es sind nach wie vor viele Fragen offen, wohin die Reise für die kleine, aber feine Spielebranche geht. Und damit auch für uns Spielbegeisterte.
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Interessante Antworten kommen, wie so oft, von Pegasus. Der hessische Verlag und Spielevertrieb ist im Vergleich zu anderen sehr offen in seiner Kommunikation. Pegasus geht proaktiv auf die Medien und andere Multiplikatoren zu, um die Welt zu erklären, wie sie derzeit nun mal ist. Die Branche kämpft mit Beschaffungsproblemen und teilweise horrend gestiegener Logistikkosten. Unter anderem und nicht als einzige Branche. Pegasus profitiert von den Erfahrungen, die der Verlag seit 2017 macht. Seit Kingdomino Spiel des Jahres wurde, ist das Transsibirische Eisenbahnnetz ein fixer Teil der Lieferplanung. „Es ergeben sich aber gegenüber der normalen Seefracht nur geringe Vorteile bei den Zulaufzeiten. Auch preislich ist dieser Weg in der Regel nicht vorteilhafter. Wir nutzen diese Möglichkeit daher im Wesentlichen zur Optimierung von Zielen“, heißt es auf spielwiese.at-Anfrage.
Für andere Verlage ist die „Neue Seidenstraße“ noch Neuland. Manche nutzen dafür verstärkt den Flieger, wie etwa Schmidt, um einen Teil der Ware nach Europa zu bringen. Es ist und wird immer nur ein Teil sein. Wenn also Pegasus-Partner Peter Eggert beiläufig erwähnt, das neue Deep Print-Spiel X werde in Woche Y in Hamburg ankommen, dann meint er damit nicht seine Heimatstadt, sondern ihren Hafen. er ist das Synonym für den Schiffscontainerverkehr, quasi eine Lebensader dieser und anderer Branchen mit dem einen Endpunkt in China.
Die Produktion zurück nach Europa zu holen, ist im Kleinen möglich, im Großen aber illusorisch. Die Spielebranche ist hochgradig globalisiert und wir als Konsumenten profitieren davon ungemein. Auch das muss in aller Deutlichkeit einmal gesagt werden. Ohne die Kooperationen vieler Verlage aus allen Ecken der Welt, die das gleiche Spiel gleichzeitig in China produzieren lassen, müssten wir deutlich mehr für das einzelne Spiel bezahlen.
Die Kehrseite ist eben die Abhängigkeit von a) den Produktionskapazitäten im Fernen Osten und b) der Transportbündelung zu Wasser, zu Land oder in der Luft. Der Rückstau ist noch nicht abgebaut. Die Pandemie hat uns eindrücklich vor Augen geführt, dass Ankündigungen und Termine, wann ein Spiel zu kaufen sein wird, sprunghafte Angaben sind.
Was uns zum speziellen Problem der Spielemessen und -veranstaltungen führt. Bis 2019 richtete sich die gesamte Branche an zwei Terminen aus. Die Spielwarenmesse in Nürnberg Ende Jänner und die „Spiel“ in Essen im Oktober. Deren Bedeutungen stark vereinfacht geschildert: In Nürnberg schlug die Stunde des Key Accounts, Nürnberg bot den Jahresüberblick für den Fachhandel, Neuheiten waren zumindest als Prototypen zu sehen. Für Essen mussten die letzten Neuheiten aus China oder anderswo punktgenau herbeigekarrt sein, um sie palettenweise ans 200.000er-Publikum verkaufen zu können. In den Hinterzimmern der Messe wurden die besagten Kooperationen verhandelt.
Bei beiden Messen musste man – physisch – dabei sein. Bis Corona kam.
Nürnberg 2020 ging buchstäblich am Vorabend der Pandemie gerade noch über die Bühne. Die dort bereits flächendeckend aufgestellten Desifnektionsmittelspender wurden von unsereins eher als Beruhigungsmaßname für die Aussteller und Besucher aus Asien belächelt. Nürnberg 2021: abgesagt bzw. in den Sommer verschoben, wo Ravensburger, Pegasus und andere Größen definitiv nicht dabei sein werden. Die digitale Alternative „Brand New“ der Spielwarenmesse zum gewohnten Termin war ein Notnagel. Zur gleichen Zeit veranstalteten Spieleverlage und Spielwarenhersteller ihre eigenen digitalen Hausmessen. Nürnberg 2022 wird als Mischform aus physischer und digitaler Messe geplant – wie immer das auch aussehen wird.
Den Vorgeschmack des Möglichen und dessen, was bei einer solchen Widersprüchlichkeit in die Hose gehen kann, wird Essen 2021 geben und die Messlatte sein (Essen 2020 war ja aus bekannten Gründen ausschließlich in den Cyberspace verbannt). Um die Messe in Essen mache ich mir jedenfalls weniger Sorgen. Aus zwei Gründen, sollten die Durchführung und der Besuch denn tatsächlich schon in diesem Herbst erlaubt sein: Es ist eine Publikumsmesse mit einem riesigen Millionen-Einzugsgebiet und das Publikum will Spiele vor dem Kauf anfassen und ausprobieren. Und nur Essen bietet – wiederum fürs Publikum – die einzige Möglichkeit, auch die Spiele von hunderten Kleinverlagen in Augenschein zu nehmen. Es ist eine Wechselabhängigkeit, denn die Kleinverlage sind sehr stark auf Essen angewiesen. Manche lukrieren dort an vier Tagen jenen Umsatz, der sie den Rest des Jahres über Wasser hält.
Mit Messen verbindet man automatisch auch den Produktkatalog, was uns indirekt wieder zum Spielwarenhändler an der Ecke zurückführt. Das Ende des Katalogs ist besiegelt, vertraut man der Einschätzung von Pegasus. Es ist der erste Verlag, der darauf verzichtet, wie spielwiese.at bestätigt wurde: „Wie z.B. IKEA versucht Pegasus Spiele mit proaktiven Veränderungen den Puls der Zeit zu treffen. Wir halten einen Printkatalog – wie eben auch IKEA -, der sogar noch unterjährig Updates braucht, nicht mehr für zeitgemäß. Stattdessen eine App anzubieten, die tagesaktuell unser Verlagsprogramm zeigt, ist eine der Lösungen, die wir aktuell planen.“
Das klingt plausibel. Doch ob und wie schnell sich auch Spielwaren Max Mustermann die viel beschworenen Segnungen der Digitalisierung zu Eigen macht, darauf darf man gespannt sein. Wie an anderer Stelle berichtet, sind die Beharrungskräfte im stationären Handel trotz Amazon, Corona-Pandemie und anderen „Pulsschlägen“ der Zeit noch sehr stark ausgeprägt.
Zusammenfassend: Entflechtung der Erscheinungstermine, die noch unklare Zukunft von Messen und Veranstaltungen, Verlage mit ihren alternativen Events und verstärkten Social-Media-Kampagnen, deren Algorithmen einen treffen oder nicht – auf uns Spielbegeisterte wartet eine neue Dimension der Unübersichtlichkeit.
Hält die Nachfrage nach Brett- und Kartenspielen in diesem hohen Maß an? Ich sage nein. Sobald uns Durchimpfung und Inzidenzzahlen wieder andere (lang ersehnte!) Möglichkeiten der Freizeitgestaltung erlauben, werden wir sie nützen. Mit Umsatzverlusten gegenüber 2020 ist zu rechnen. Es wird ein Stück Rückkehr zur Normalität sein.
Was denkst du darüber?